Überarb.8 /2024 v
Zur Müllerschen „Systematischen Heuristik“
Die Systematische Heuristik ist eine Technologie der geistigen Arbeit. Es handelt sich um ein Methodensystem zur Bewältigung von Präzisierungen bei Aufgabenstellungen und von Problemlösungsprozessen aus den Bereichen Naturwissenschaft und Technik.
Das Prinzip der Systematischen Heuristik besteht darin, wiederkehrende Problemklassen mit Methoden zu bearbeiten, die sich in der Vergangenheit als effektiv erwiesen haben. Diese Methoden werden Programme genannt und in einer Programmbibliothek zur Wiederverwendung bereitgestellt. Das Arbeitsregime für die Problemlösung wird durch das Oberprogramm der Systematischen Heuristik vorgegeben und für die jeweilige Aufgabe spezifiziert.
Die systemwissenschaftliche Arbeitsweise (SWAW) und der Begriffsapparat sind Bestandteil des Oberprogramms. Dabei hat sich das Modell der 3-Handlungsebenen (Schicht- und Schrittübergänge’) als methodisch geschickt und effektiv erwiesen.
Das legendäre Programm zur Präzisierung von Aufgabenstellungen („A 2-Programm“) oder die bewährte „black-box“ hatten sich in den 1970er Jahren weit verbreitet.
Ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal ist der Methodenbaukasten – eine Bibliothek heuristischer Programme. Diese vielen Programme (je nach Ausbaustufe >35 bis >100 heuristische Programme [M 7 bzw. 8]) werden vom Oberprogramm zielgerichtet aufgerufen. So können große Bereiche gedanklicher Arbeitsprozesse methodenbewusst gestaltet werden.
Die Programmbibliothek erklärt ihren Inhalt für die unterschiedlichen Gebiete gedanklicher Tätigkeit durch die Begriffe selbst, wobei z. B. C1; C2, C3 und C4 die Hauptschritte zum Erarbeiten (wissenschaftlich-technischer) Gesetzesaussagen sind.
A Aufgaben- stellung | B Begriffe; Be griffs-systeme | C Gesetzesaussagen | D Modelle | E Entwürfe | F Verfahren | G Programme |
A1 suchen | B1 benennen | C1 bilden | D1 aufstellen | E1 Prinzip aufstellen | F1 Wirk-prinzip bestim-men | G1 Algorithmus aufstellen |
A2 präzisieren | B2 präzisieren | C2 Überprüfen | D2 Umformen | E2 Bewerten, entscheiden | F2 experimentell ermitteln | G2 erarbeiten |
A3 Teilauf-gaben formulieren | B3 explizieren | C3 Präzisieren | D3 Behandeln | E3 anpassen | F3 gedanklich durcharbeiten | G3 testen |
B4 Klassifizieren | C4 Einordnen | G4 einfahren |
Nachteil der Systematische Heuristik heute sind das anspruchsvolle Darstellungsniveau hinsichtlich Sprache (vgl. Speicherspalte B in Tabelle 1), die abstrakte Darstellung und nötige theoretische Kenntnisse, die zusammen mit der konsequenten und produktiven systemwissenschaftlichen Arbeitsweise eine Trainingstrecke erforderlich machen. Das wird heute nicht gern geleistet.
Viele der Nutzer aus den 70er Jahren verwenden noch heute das A 2-Programm und die daraus abgeleitete Black-Box-Darstellung. Die Erkenntnisse Müllers finden sich heute in vielen Bibliotheken der Ingenieurdisziplinen genügend breit wieder und haben – wenn auch mit deutlich unterschiedlicher Intensität die Konstruktionswissenschaftler und deren Publikationen der Jahre seit 1970 mit beeinflusst [S 14].
Die sich in den 70er und 80er Jahren verbreiteten „Erfinderschulen“ der DDR konnten auf das von der Systematische Heuristik aufbereitete Verständnis von der Trainierbarkeit, Rationalisierungsmöglichkeit und -notwendigkeit ingenieurtechnischer Arbeit und die Mitwirkung vieler Heuristiker aufbauen. Sie nutzen viele Elemente der Systematische Heuristik. Ihre heutigen Autoren haben oft die Heuristik als Vorläufer und Anreger. Die „Erfinderschulen“ waren und sind – wie die Praxis heute zeigt – einfacher umzusetzen als die relativ umfassende Systematsiche Heuristik.
Schlussfolgerungen für die Kreativitätsanwendung
1. Mit der Anwendung der Systematischen Heuristik in der DDR-Industrie konnte nachgewiesen werden: Wenn Forscher und Entwickler durch ein Arbeitsregime und zusätzlich angeleitet durch Methodik-Spezialisten mit der Systematischen Heuristik arbeiten, sind sie tatsächlich effektiver als vorher. Beispielsweise durch Erfinderschulen (s. dort) können einzelne Problemlöser ohne umfangreiche Organisation qualifiziert werden. Mit der komplexen Systematischen Heuristik werden dagegen die größten Effekte erreicht, wenn die Arbeitsweise ganzer Bereiche verändert wird.
2. Der Mensch schätzt die Routine und bewältigt damit den größten Teil seines Lebens. Zugespitzt formulierte Müller: „Es ist nicht des Menschen Natur (vorzugsweise rational dominiert) geistig zu arbeiten.“ Seinen Verstand benutzt der Mensch nur dann, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt. Er vermeidet systematische Problemlösungen und den „Rationalbetrieb“ so lange wie möglich, denn sie bedeuten Stress und Aufwand. Deshalb legen Forscher und Entwickler „im Normalfall“ jedes Methodensystem wieder beiseite. Eine ganz wesentliche Erkenntnis aus der industriellen Anwendung der Systematischen Heuristik.
3. In seinem oben genannten Werk nennt Müller u.a. als Schlussfolgerung nach 30-jähriger Forschungsarbeit: Die Arbeitstechniken der gedanklich Tätigen, insbesondere der Ingenieure „ist zunehmend durch die Anwendung von systematischen Problemlösungs-methoden mit und ohne Rechnereinsatz gekennzeichnet. Grundlagen für den Wandel von stärker intuitiv betonten und auf Erfahrung beruhenden Vorgehen zum mehr methodischen, rechnergestützten Arbeiten sind die Analysen bewährter Arbeitsme-thoden …“. Dabei haben sich viele Methoden, Ansätze und Programmsammlungen und andere Formen (Kreativitätstechniken usw.) bewährt, wenn sie für geeignet adaptives Anwenden gestaltet sind. Bereits mit wenigen Methoden werden beachtliche Wirkungen erzielt.
Die Konstruktionsmethodik und eine Methodologie der Technikwissenschaften wurden durch viele Erkenntnisse und Werkzeuge aus dem Hause Müller deutlich weiterentwickelt. Eine vermeintlich heute gespürte Verringerung der Forschung auf diesem Gebiet sollte beunruhigen.
4. Für die Akzeptanz der extern bereitgestellten Methoden kommt es auf die „innere Schnittstelle“ zwischen diesen externen und den im Kopf vorhandenen ‚inneren’ Methoden an und wie sich Bedarf, Situation, Umstände u. a. gestalten. „Praktiker haben keine Akzeptanzschwierigkeiten gegen über Methoden und Methodik, aber sie müssen beim Gebrauch die ihnen gemäße „Gangart“ anschlagen, individuelle Ausprägungen benutzen und so verfahren dürfen, wie sie „das Zeug dazu haben“. Nur dann wird es auch effektiv. Methoden müssen folglich nicht vollständig vorgegeben sein, komplett aktualisiert oder sequentiell abgearbeitet werden. Das schließt ihre logisch-systematische Darstellung nicht aus (z. B. für Einsteiger als Methodenbaukasten), aber jeder Nutzer muss dann diese Methoden/Methodik „herunterbrechen“ können „fall-, situations- und vor allem personenspezifisch“.
So wissen wir heute für gedankliche Arbeitsprozesse: das richtet sich eindeutig gegen einen generellen Geltungsanspruch von Methoden (z.B. beim TRIZ), aber auch gegen zu detaillierte Vorgaben (die Akzeptanz der auf ca. 100 Programm erweiterten 3. Programm-bibliothek zur SH war geringer als die mit ca. 30 Programmen). Daraus folgert Müller auch, man kann die Bearbeiter in schöpferischen Prozessen „nicht „programmieren“ auch nicht heuristisch““. Dazu sei als Konsequenz weiter zitiert: „Methodik darf nicht versuchen, den Praktiker zu steuern, sie kann sich bemühen zu stimulieren.“.
Kahneman konnte in [Ka1] dafür beeindruckende experimentelle Beweise vorgelegen. Offenbar vertrauen wir alle zunächst einmal unserem Bauchgefühl. Das arbeitet automatisch, und die so getroffenen Entscheidungen entstehen anscheinend mühelos. Nur wenige sind bereit, ihren ‚Verstand einzuschalten’, die oft genug niveaulosen Spontan-lösungen zu hinterfragen, und danach schließlich eben doch den mühseligen systematischen Weg zu gehen. Wer sich dieses Zusammenhanges bewusst ist, schätzt den Einsatz der Systematischen Heuristik umso mehr.
Literatur und Weiterführende
s. auch Stichworte bei Wikipedia: „Systematische Heuristik“ und „Johannes Müller (Heuristiker)“
- [M 7] Müller, Johannes: Programmbibliothek zur systematischen Heuristik für Naturwissenschaftler und Ingenieure.(Technisch-wissenschaftliche Abhandlungen des ZIS. Nr. 69). Zentralinstitut für Schweißtechnik (ZIS), Halle/Saale 197 [M 6] Müller, Johannes: Grundlagen der systematischen Heuristik. Dietz, Berlin 1970.
- [M 8] Müller, J., Koch, P. (Hrsg.):Programmbibliothek zur systematischen Heuristik für Naturwissenschaftler und Ingenieure. (Technisch-wissenschaftliche Abhandlungen des ZIS.Nr. 97, 98 und 99). 3. Auflage, Zentralinstitut für Schweißtechnik (ZIS), Halle/Saale 1973.
- [M 10] Müller, J.: Arbeitsmethoden der Technikwissenschaften – Systematik, Heuristik, Kreativität. Springer, Berlin/Heidelberg/New York 1990, ISBN 3-540-51661-1 .
- [Mü 1] Müller, J. : Akzeptanzproblemein der Industrie, ihre Ursachen und Wege zu Ihrer Überwindung in: G. Pahl Psychologische und pädagogische Fragen beim methodischen Konstruieren 1994 Verlag TÜV-Rheinland Köln
- [Ka1] Kahnemann, D.: Schnelles Denken, langsames Denken. Siedlerverlag München 2012
- [S 14] Stanke, K.: Systematische Heuristik in „Ingenieur-Nachrichten, Ztsch. f. Wissenschaft, Wirtschaft und Technik. Erfurt (2009) 1. S. 29